Kanal

Mit dem Radl rattere ich die Isarauen runter. Ich vertreibe mir die Sommerferien bis ich in die neue Schule komme, damit die Stadt für mich zurück zu erobern. Ich war vier Jahre weg und seit meinen Barfusstagen im Hinterhof hat sich mein Radius vergrößert und der Blick eines Kindes ist dem eines Heranwachsenden gewichen. Meine Freunde von der Gebeleschule sind über alle Berge.

Die Stadt ist verlassen, ganz München ist im Urlaub. In der Einöde des Nordteils vom Englischen Gartens streife ich in den Büschen am Ufer umher. So vergehen Tage. Irgendwann stehe ich vor einem übermannshohen Gebäude. Es ist der Eingang zu einem Kanal. Er wirkt wie aus dem London der “Borribles” herausgepurzelt. Ein kleines Rinnsal ergiesst sich in die Isar. Es ist das Universum für zahllose Wasserflöhe. Die nächsten Stunden verbringe ich damit sie einzufangen und wieder freizulassen. Meine Zivilisation, ich ihr Gott. Ich bin der einzige Mensch auf dem Planeten.

Am nächsten Tag komme ich wieder. Ich habe meinen Hut aufgesetzt und tatsächlich einen Ochsentrimmer aus einem Familienurlaub in Niederbayern eingesteckt.

Auf dem Weg zum Kanal mache ich Pause um Steine in die Isar zu werfen. Nebenan spielen ein paar Bogenhauser Schrazen und machen das Selbe wie ich. Sie sind eigentlich zu jung um meine Spielkameraden zu werden aber ich fasse mir ein Herz und spreche sie an. Sie fragen mich nach dem Hut, der Peitsche und woher ich komme. Ich erzähle eine blumige Geschichte, ich käme von weit her und jetzt ginge ich in einen Kanal. Sie wollen mit.

Minuten später stehen wir zu fünft vor dem Eingang. Zwei Mädls und wir drei Jungs. Wir haben alle die Hosen voll. Die kleine Hübsche mit den schwarzen Haaren und den blauen Augen fragt ob ich das schonmal gemacht habe. “Na, klar. Also nicht hier, aber sowas Ähnliches…”

Schritt für Schritt geht’s hinein in die Nasse Unterwelt des Schwabinger E-Gartens. Hinter uns verschwindet das Rauschen der Isar. Irgendwann hören die Schmiererein an den Wänden auf. Wir können den Eingang nicht mehr sehen. Wir drehen um.

In den nächsten Tagen werden wir eine verschworene Entdeckergemeinschaft. Die Kleinen haben richtig Mumm in den Knochen. Sie werden die ersten Kinder mit denen ich in meinem neuen München Freundschaft schliesse.

Beim nächsten mal gehen wir tiefer rein und haben Taschenlampen dabei. Dann noch tiefer. Ein zweiter Kanal geht vom Hauptgang ab, dann ein Dritter, dann wirkt die Anlage viel moderner, keine Steine mehr sondern Beton. Wir würden gerne mal die Nase rausstrecken wo wir sind. Ich klettere einen Gulli rauf. Über den Deckel rattern Autos. Ich klettere wieder runter.

Wir gehen weiter. Tiefer hinein in den Bauch der Stadt. Ein paar Deckel weiter herscht Ruhe. Jetzt wage ich es. Ich stemme mit dem Rücken den Deckel hoch und klettere raus. Eine Wiese, der Geruch von gemähtem Gras in der Sonne. Ich helfe den anderen hoch. Wir sind auf einem Schwabinger Sportplatz.

Dann sehen wir ihn! Er dreht ein paar Meter weiter seine Runden. Der Hausmeister hat uns auch gesehen und springt aufgebracht vom Rasenmäher und stürzt rufend auf uns zu. Wir geben Fersengeld und schlüpfen zum Tor hinaus…

Meine neuen Freunde habe ich danach leider aus den Augen verloren.