Kellerkinder

Vom Michaeli Gymnasium zum Karl-Preis Platz ist es nicht weit mit der U-Bahn. Dieter öffnet die U-Bahn Tür und schreitet mit weiten, zielgerichteten Schritten auf den 70er Jahre rotzbraunen Bahnsteig. Er läuft immer als hätte er wenig Zeit. Federnd, forsch und vor allem sehr schnell. Ich als Kettenraucher habe Mühe hinterher zukommen.

Am Körper trägt er nur schwarzes Zeug. Reeboks, Stretchjeans, wehender Stoffmantel, Celtic Frost T-Shirt. Wären da nicht ein paar wache grüne Augen und einige Muttermale, er ginge mit den langen, offenen blonden Haaren auch als Albino durch. Dieter ist zwei Jahre älter als ich, schlank bis dürr und ich weiss nicht genau wieso er mit mir abhängt.

Mein Äusseres ist noch nicht so ausgefeilt. Ich trage eine Fetzenjeans mit Schlag und dazu ein paar olivgrüne Chucks. Anstatt Schnürsenkeln habe ich Paketschnur reingetan die langsam fleddert. Meine rotbraunen Haare sind noch nicht so lang wie bei Dieter oder Hannes und zur Jeans trage ich eine schwarze Lederjacke. Dieter will mir sein neues “Zimmer” zeigen. Ich jage ihm hinterher durch die grünen Hinterhöfe der Gewofag-Wohnsiedlungen bis wir zu seinem Haus kommen.

Angekommen verschwindet er kurz im ersten Stock um den Schlüssel zu holen. Danach die Treppe runter in den Keller.

Er hat das Abteil mit Stoffbahnen abgetrennt, hier die Skier und alten Fotos seiner Eltern, dort sein neues Reich. Eine kleine Luke ist die einzige Lichtquelle.

Dieter redet ohne Unterbrechung. “Ich versuche weniger zu reden. Wenn man weniger redet muss man weniger denken und die Leute haben dennoch den Einruck, das man viel mehr nachdenkt. Das ist einfach effizienter weisst Du? Die triste Phase ist vorbei, Hedonismus und Positivismus, wie Andrew Eldritch der jetzt mit rosa Herzchenbrille Interviews gibt. Hier, die neue Alien Sex Fiend, geniales Zeug. Kann ich Dir leihen. Wie heisst die Kleine mit der Du immer unterwegs bist in letzter Zeit, Maya? Sehr süß. Ich spiele jetzt mit tiefer gestimmten Saiten, dann kannst Du den Barree einfach so greifen, mit einem Finger.”

Er hat sich bisher ein Zimmer mit seiner Schwester geteilt.

“Da schau, das hab ich geschrieben…” Er drückt mir zehn oder zwanzig eng beschriebene DINA4 Seiten in die Hand. “Lies mal”. Ich fange an zu lesen. Es heisst, “Exodus 93” ich komme nicht über die ersten Sätze hinaus als er es mir wieder aus der Hand reisst. “Hast du schon ‘Paranoia’ gespielt?” Er wedelt mit einem Roleplay Regelwerk. “Fast so geil wie ‘Call of Cthulu’ aber eben Cyberpunk und eine 1984 Persiflage. Schau, lass uns was für den Kleinkunstabend machen. Hier, such einen Text raus…”

Jetzt halte ich einen Gedichtband von Georg Trakl in der Hand. Es fällt mir schwer bei dem Tempo mitzuhalten. “Da, nimm ein paar Katos”. Dieter hält mir die orangefarbene Tablettenpackung hin. Katovit. Unser derzeitiger Lieblings-Upper. Man kann es in jeder Apotheke kaufen für 7DM. Einfach die süsse Ummantelung ablutschen, zerstampfen und dann die Nase hoch. Man wird klar, wach und kann sich wie ein Laserstrahl konzentrieren.

Wir fangen an Musik zu machen. Ich sitze am Schlagzeug, Dieter spielt Gitarre. “Ja, das mit den Toms ist geil, ja, spiel so die Melodie damit mit…” Ich kann garnicht Schlagzeug spielen. Dieter ist es egal. “Genial, das ist was ganz Neues…weiter!”

Dieter hängt den Tretminen-Octaver von der Gitarre um an sein Micro und fängt an den Trakltext zu singen:

“Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.
Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern”

Ich spiele jetzt das Casio-Keyboard. Wir haben den Standard-Bossanova Beat auf maximales Tempo gestellt. Es breakbeatet zu den Basslines die ich spiele und Dieter hat die Transistorzerre voll auf. Dazu Trakl.

“Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.”

Irgendwo läuft ein Kassettenrecorder mit. Als es dunkel wird frage ich Dieter ob er noch mit ins Flex kommen mag. “Ich bin grad eher so auf dem produktiven Film, ich gehe eigentlich kaum noch weg…die meisten Leute langweilen mich. Ich will mich heute noch mit Mathe beschäftigen. Mathe ist geil. Warte…”

Er versinkt in einer seiner Bücherkisten auf der Suche nach einem weiteren Buch und bemerkt nicht, dass ich bereits wieder auf dem Weg zurück an die Oberfläche bin…